Berlin, 24. August 2007
Ansprache von Dr.Arquer
DIETMAR
Augustinus, der große Kirchenlehrer aus dem 4. Jahrhundert, erinnert sich im 4. Buch seiner „Bekenntnisse“ an den Augenblick, da er – noch ein Agnostiker - vom plötzlichen Tod seines besten Freundes erfuhr: Factus eram mihi magna quaestio... Ich selber war mir zur großen Frage geworden.
Die magna quaestio war für ihn: Ist es wirklich so, dass jetzt mein Freund weg ist, ganz weg, ins Nichts versunken? Und wird es auch bei mir einmal so sein? Und was für einen Sinn hat dann das Ganze?
Immer ist es ein wenig so, wenn wir vom Tod eines Menschen erfahren, der uns viel bedeutet hat – als Familienangehörige, als Freund, als Kollege – und uns weiterhin viel bedeutet.
Dürfen wir dies im Präsens sagen? Dass er jetzt mir etwas bedeutet?
Manche werden sagen: Ja, natürlich, er bedeutet mir weiterhin viel, „er lebt in meiner Erinnerung“. Aber wahrscheinlich ahnen viele von denen, die diese Redewendung gebrauchen: Es ist eine unbefriedigende Hilfskonstruktion, ein Placebo...
Ich selber war mir zur großen Frage geworden....Beim Gedenken des toten Freundes setzen sich die vielen Erfahrungen, Begegnungen, Worte, Ereignisse aus der Vergangenheit zusammen, wie bei einem fertigen Puzzle. Besonders bei euch in der Familie wird es so sein: Bei Dir, Brigitte, bei den Kindern und Enkelkindern. Aber auch bei uns allen, die ihn gekannt haben.
Da sehen wir Dietmar anders, wesenhafter. Wesentliches tritt deutlicher als sonst im Alltag hervor.
Er ermuntert uns, uns einer höheren Dimension zu öffnen. Nennen wir diese höhere Dimension vorsichtig: „Transzendenz“.
In allen Religionen und Kulturkreisen gibt es ein Urempfinden dafür, dass mit dem Tod der Mensch nicht ins Nichts fällt. Beispiele dafür finden wir unweit von Ihrem Institut, im Dahlemer Ethnologischen Museum oder jetzt bei der beeindruckenden Ausstellung „Königsgräber der Skythen“ im Martin-Gropius-Bau.
Der christliche Glaube gibt diesen Ahnungen Gewissheit und Gestalt.
Vom christlichen Glauben her dürfen wir sagen: Unser Verstorbener lebt bei Gott, er hat seinen Weg vollendet.
Für einen gläubigen Christen – egal jetzt, in wie weit es ihm gelingt, im Alltag sein Christsein zu realisieren – für einen gläubigen Christen also gründet diese Hoffnung in der Realität, dass Gott Mensch geworden ist in Jesus Christus. Und dass er den Tod überwunden hat und gesagt hat:
Ich bin die Auferstehung und das Leben, Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Und da sehen wir: jene „höhere Dimension“, die ich vorsichtig „Transzendenz“ genannt habe, ist kein Abstraktum. Sie ist Begegnung, Umgang, Aussprache mit einer Person – mit Gott, wie er sich uns in Christus offenbart, der uns sagen lehrt, beten lehrt: „Vater unser“.
Und da denke ich an Dietmar. Manche von ihnen werden beiläufig – vielleicht bei einem Kongress - erfahren haben, wie wichtig es für ihn war, zur heiligen Messe zu gehen, zur Eucharistiefeier – nicht nur sonntags. Sie werden nicht so deutlich bemerkt haben, wie wichtig es für ihn war, mitten im beruflichen Alltag eine Zeit für sein persönliches Beten zu sichern, unauffällig, diskret.
Dietmar sah den Glauben als Fundament für ein sinnvolles Leben, auf Gott hin. Da war für ihn die Entdeckung des Opus Dei entscheidend. Es war Mitte der 60er Jahre. Mit dem geschärften Blick eines nüchternen Naturwissenschaftlers hat er den Kern dieser Spiritualität gleich erfasst: Die eigene konkrete Situation in der Welt (vor allem als Ehemann, Vater und Großvater, dann auch als Kollege) als Geschenk Gottes und Ruf Gottes zu fassen. Und auch die Art, sich als Christ zu bekennen, die er im Geist des Opus Dei fand, entsprach seiner nüchternen Art. Zeugnis geben gehört zum Wesen des Christseins. Die Formen sind verschieden. Für den Gründer des Opus Dei war das Zeugnis eines Mitglieds einfach die Natürlichkeit eines Weltchristen, der wenig über sein frommes Engagement erzählt, aber durch die Art, wie er arbeitet, wie er andere ernst nimmt, wie er einfach „angenehm menschlich“ ist, Menschen anzieht. Und einige fragen sich: Woher hat er das? Und werden nachdenklich. Vielleicht hat der eine oder andere von ihnen aus der Freundschaft mit Dietmar her auch die eine oder andere Anregung für sein Christsein gefunden.
Es ist schön zu sehen, wie Dietmar in entscheidenden Dingen Vollendung hat erleben dürfen: Seine Entpflichtung, höre ich, war ein großes Fest. Es wird für ihn ein erfüllendes Erlebnis gewesen sein. Sie, die Sie dabei waren, werden jetzt dankbar sein, dass es so war.
Daneben stelle ich ein anderes Erlebnis, das – auf einer anderen Ebene – ihn erfüllte, wie ich weiß. Dietmar war Mitte der 60er Jahre einer der ersten verheirateten Mitglieder des Opus Dei in Deutschland, als dieses Werk in Deutschland noch sehr klein war. Im Jahre 2002 war er mit seiner Frau eine der rund 250.000 Personen, die bei der Heiligsprechung des Gründers Josefmaria Escrivá den Petersplatz füllten. Da empfand er sich als Angehöriger einer weltweiten Familie. Er wird jene Erfahrung in Rom als Bekräftigung seiner Entscheidung als Student in Heidelberg empfunden haben.
So sehen wir ihn heute: vollendet.
In der Präfation der hl. Messe, d.h. im Einführungsgebet in die Mitte des Geheimnisses, steht der Satz: vita mutatur, non tollitur - das Leben wird uns gewandelt, nicht genommen. Uns daran zu erinnern möge sein letzter Freundschaftsdienst an uns sein – wie ein Samen, den er heute, jetzt, ohne Worte auf unseren eigenen Erdboden wirft.
Ansprache von Pfarrer Gillessen:
ANSPRACHE BEIM REQUIEM FÜR PROF.DR.DIETMAR STEHLIK St.
Bernhard, 24. August 2007
Liebe Frau Stehlik, liebe
Angehörige, liebe Trauergemeinde!
"Der Herr hat gegeben, der
Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn." So spricht Hiob, der
alttestamentlich Weise, als er erfährt, dass ihm sein Vieh und seine
Dienerschaft genommen und seine zehn Kinder tödlich verunglückt sind. Dieses
berühmt gewordene Wort ist Ausdruck seiner Ergebenheit in Gottes Willen.
"Der
Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn."
So haben Sie, liebe Frau Stehlik, auf den jähen Tod Ihres Mannes reagiert.
Dieser Tod wirkt in der Tat wie ein Eingriff von oben. An einem schönen Tag
radelten Sie beide auf einer der Orkney-Inseln nördlich von Schottland. Ihr
Mann gab Ihnen noch einen kleinen Schubs, damit Sie den nächsten Hügel gut
schafften - wie er es gerne tat - und dann merkten Sie plötzlich, wie er
stürzte. Ein Herzversagen, ein Sekundentod. Alle Wiederbelebungsversuche waren
vergeblich.
"Der
Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn."
Das sagen auch wir in dieser Stunde. Seine Angehörigen trauern um ihn, seine
Kollegen und Schüler - und auch die Pfarrgemeinde St. Bernhard und die
Englischsprachige Mission.
Mehrere
Orte in dieser Kirche erinnern uns an Professor Stehlik. Die Empore: dort hat
er jahrelang in der gregorianischen Schola mitgesungen. Die Kanzel: hier hat er
- zusammen mit seiner Frau - die englischen Lesungen vorgetragen und auch die
Antiphon gesungen. Aber am meisten fehlt er uns in einer der letzten Bänke.
Dort pflegte er täglich an der Heiligen Messe teilzunehmen. Und anschließend
blieb er dort noch längere Zeit, ins Gebet versunken. Auch tagsüber kam er
manches Mal vom Institut in die Kirche, um geistlich aufzutanken.
Auch
unser Pfarrsaal erinnert uns an ihn. Er war in seinem Element, wenn er - wieder
zusammen mit seiner Frau - die Coffee hour nach der Englischsprachigen Messe
organisierte. Da gingen Sie beide auf die Gäste aus aller Welt zu und gaben
ihnen das Gefühl, hier bei uns willkommen zu sein.
Der
kleine Schubs, den Ihr Mann Ihnen, liebe Frau Stehlik, zum Schluss noch gab,
erinnert mich an seine "Vorwärtsstrategie". Sowohl bei der
Integration der Englischsprachigen Gemeinde, wie auch bei der Aufnahme der Katholischen
Studentengemeinde hier in St. Bernhard, war er eine der treibenden Kräfte.
Da
mag die Erinnerung an seine Studienzeit in Heidelberg wieder wach geworden
~ein. Damals hatte er sich schon besonders für die ausländischen Kommilitonen
interessiert. Und er hatte begonnen, Kontakte in die DDR zu knüpfen. Kontakte
zur KSG in Leipzig, die ein Leben lang dauern sollten und heute noch tragen.
Wie schön, dass er seine letzte
Ruhe hier in Berlin findet: seiner Geburtsstadt, die Schauplatz der Spaltung
und der Wiedervereinigung unseres Volkes geworden ist.
Liebe Trauergemeinde!
Welchen
Trost spenden uns die beiden biblischen Lesungen, die wir soeben gehört haben?
Im Buch Hiob artikuliert sich die Skepsis des Menschen in Bezug auf eine
Weiterleben nach dem Tod. Wir sind vergänglich wie die Blume, die welkt, wie
der Schatten, der flieht.
"Stirbt
ein Mann, so bleibt er kraftlos, verscheidet ein Mensch, wo ist er dann?"
(14, 10) Doch irgendetwas in uns wehrt sich gegen die Vorstellung, dass mit
dem Tod alles aus sei. Wenn Gott uns erschaffen hat, jeden einzelnen, dann kann
er uns doch nicht einfach ins Nichts fallen lassen. Und so hofft Hiob leise auf
Gottes Sehnsucht nach seinem Geschöpf: " ... Du riefest, und ich gäbe Antwort,
du sehntest dich nach deiner Hände Werk."
Was
im Alten Testament noch eine vage Hoffnung ist, wird im Neuen Testament zur
Gewissheit: "Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen
Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das
ewige Leben hat."
Galilei
hat einmal erklärt, dass die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit der
Wissenschaft einander nicht widersprechen können, "da die Heilige Schrift
und die Natur gleichermaßen dem göttlichen Wort entspringen, jene als diktiert
vom Heiligen Geist, diese als getreue Vollstreckerin der Anordnungen Gottes."
Wie
oft mag Professor Stehlik über dieses Geheimnis nachgedacht haben: Derselbe
Gott, der den Kosmos, den Makro- und den Mikrokosmos, mit seinen Strukturen und
Gesetzmäßigkeiten erschaffen hat, dieser Gott hat seinen Sohn in die Welt
gesandt, um uns zu erlösen.
Der
göttliche Logos, in dem alles erschaffen wurde und in dem alles Bestand hat,
ist selber Fleisch geworden "und hat unter uns gewohnt". Ja, er geht
noch weiter: unter der bescheidenen Brotsgestalt gibt er sich uns zur Speise.
Liebe Trauergemeinde!
Professor
Stehlik hat Tagebuch geführt. Zwei Tage vor seinem Tod hat er, angeregt durch
Betrachtungen eines Priesters vom Opus Dei, Gedanken niedergeschrieben, die
jetzt wie ein Testament wirken:
1. "Das ganze Leben (ist)
im Grunde ein Dialog mit Gott, dem die angemessene Zeit gehört."
2. "Sich in die Gegenwart
Gottes versetzen heißt, sich bewusst zu werden, dass Er in meinem Innern
ist." 3. "Wenn Christus wirklich in mir lebt, werde ich
hinausgeschleudert zu den andern, um sie mit Christus zu gewinnen."
In
der vorletzten Zeile ist die Rede vom Tod, "dem Übergang zum vollen
Leben." Dieses volle Leben wünschen wir ihm nun, das Leben vor dem
Angesicht Gottes, in der Gemeinschaft der Heiligen, in der Freundschaft mit
Jesus, dem menschgewordenen Gott, der unsere Sünden durch sein Blut getilgt
hat. Amen.
Liebe Anwesende,
ratlos und
erschüttert treffen wir uns heute, um unseren hoch geschätzten, lieben Kollegen
Dietmar Stehlik zu Grabe zu tragen. Unser besonderes Mitgefühl gilt seinen Angehörigen:
Dir liebe Brigitte,
Euren Kindern Claudia,
Robert und Nicola, gemeinsam mit David und Sharon,
sowie Euren Enkeln
Maia, Simoa, Anthony, Emily, Jaime und Redmond
Dietmar war einer
unserer beliebtesten Hochschullehrer im Fachbereich Physik der FU und einer
unserer besten Wissenschaftler; für mich war er Vorbild und Freund. Noch vor
wenigen Wochen waren wir alle fröhlich vereint, um seine Emeritierung zu
feiern. Ein wunderschönes Fest hatte er uns ausgerichtet, um den Beginn seines
3. Lebensabschnittes zu feiern. Dass dieser so bald enden sollte, ahnte dabei noch
niemand. Zu der akademischen Feier hatte Dietmar ziemlich klar aufgefordert:
„Keine warmen Worte, die verbitte ich mir.“ So war er, er wollte es nicht, dass
um seine Person ein Aufheben gemacht wurde. Heute, lieber Dietmar, geht es
nicht anders; Dankbarkeit und Gerechtigkeit verlangen dieses!
Erlauben Sie mir mit
dem Wissenschaftler Dietmar Stehlik zu beginnen: Dietmar stand als
Forscher der Natur sehr nahe: Seine Bewunderung und sein Staunen über nächtlichen
Sternenhimmel, das Strahlen der Gletscher, die Weite der Wüste gaben ihm die
Sicherheit, dass Gott unsere Welten lenkt. Aus dieser Gewissheit schöpfte er
Antrieb und Kraft, zielgerichtet daraufhin zu arbeiten, diesen Schöpfungsplan
besser zu verstehen, und dieses bedeutete für ihn: die Klärung von Vorgängen in
Molekülen, Kristallen und biologischen Systemen.
Und so ziehen sich durch sein
wissenschaftliches Wirken konsequent zwei
Motive: die Wechselwirkungen der kleinen
molekularen Elementarmagnete, der Spins, sowie die Beeinflussung organischer
Materie durch Licht, die sogenannte Photochemie. Beides zusammen ist der rote
Faden seiner Arbeiten, die am Max-Planck-Institut in Heidelberg mit
Untersuchungen von Spinechos begannen, wie sie heute in der magnetischen Kernspin
Tomographie in der Medizin genutzt werden. Typisch für Dietmar war dabei die
konsequente und – angesichts des heutigen Profilierungsdrucks - manchmal auch als
sehr beharrlich erscheinende Vorgehensweise. Die gewonnen methodischen und
physikalischen Aspekte wurden dabei systematisch in den Bereich der Biologie
übertragen und äußerst erfolgreich zur Untersuchung elementarer Schritte der
Photosynthese eingesetzt.
Neben diesen in der
Forschergemeinschaft sehr bekannten Arbeiten beschäftigte ihn in den letzten
Jahren eine viel allgemeinere Thematik, nämlich der Prozess des Messens in der
Quantenmechanik, wie er in der berühmten Fragestellung von Einstein, Podolski
und Rosen formuliert wurde. Diese Problemstellung ist ihm sicher durch die
Beschäftigung mit Spinzuständen nahe gekommen. Und ich bin überzeugt, dass er
sich eine weit intensivere Beschäftigung damit für die Zeit nach seiner
Emeritierung vorgenommen hatte.
.
Für Dietmar Stehlik waren
wissenschaftliche Kooperationen die optimale Form für erfolgreiches wissenschaftliches
Arbeiten. So wirkte er maßgeblich an insgesamt 5 Sonderforschungsbereichen mit;
2 davon leitete er als Sprecher. Auch ich wurde, als ich nach 1989 nach Berlin
kam, von ihm mit Geschick in den Sfb 337 integriert. Thematisch und inhaltlich
stellte er dabei die Weichen so, dass später daraus ein neuer
Sonderforschungsbereich, der Sfb 450, entstehen konnte. Dabei setzten wir erfolgreich
die Prinzipien fort, die wir von Dietmar erlernt hatten, wie beispielsweise
beim Umfang der beantragten Fördermittel möglichst bescheiden zu sein. Auch das
Boot des Sfb 498 hat Dietmar seit dessen Beginn an schärfsten Klippen vorbei
gesteuert. Wissenschaftlich hat er dabei mit seinem Kooperationspartner John
Golbeck aus den USA eindrucksvoll die Veränderung der elektronischen
Eigenschaften eines Farbstoffmoleküls durch seine Proteinumgebung nachweisen
können.
Internationalen
Kooperationen maß Dietmar Stehlik generell besondere Bedeutung zu. Dabei kam
ihm sein ausgeprägtes Interesse an den Menschen und Kulturen sehr zu Hilfe. So
suchte er bei Forschungsaufenthalten in den USA, Australien und Südafrika nicht nur den wissenschaftlichen
Kontakt, sondern immer auch die
persönliche Begegnung. Bereits als junger Postdoc ging er nach Berkeley zu Erwin
Hahn. Die dabei entstandene Freundschaft hat bis zuletzt gehalten!
1976 war ein gutes
Jahr für den Fachbereich Physik und die Freie Universität; dann nämlich haben
Dietmar und seine junge Familie sich für Berlin entschieden. Einfach war die
Entscheidung von Heidelberg wegzuziehen nicht. Dennoch kam die Familie
begeistert – über den nicht alltäglichen Umweg Afganistan - in die damals noch
geteilte und eingemauerte Stadt, wenngleich die Zeit für solch einen Wechsel nicht
gerade ermutigend war: damals nämlich drangsalierte die DDR vermeintliche
“Dissidenten” aus Kultur und Wissenschaft, denken wir an die Verbannung Wolf
Biermanns.
Dietmar Stehlik hat
sich mit der Teilung der Stadt und der erzwungenen Abschottung gegen die DDR
nicht abgefunden; vielmehr überwand er
sie in der ihm eigenen Art: Er pflegte intensive wissenschaftliche und
persönliche Beziehungen mit den Menschen dort, besonders mit Physikern in
Leipzig. Diese wurden dann Brücken zu weiteren Kontakten gen Osten: nach Polen
und in die Sowjetunion. So hat er in Warschau, Posen, Novosibirsk und Kazan
Kooperationspartner und Freunde gewonnen, die nun mit uns um den Verlust dieses
großartigen Freundes trauern; hier nenne ich – stellvertretend für alle – Kev
Salikhov.
Dietmar Stehlik hat besonders
auch Kontakte zu Wissenschaftlern aus Israel gepflegt. Jerusalem wurde fast zu
seiner zweiten Heimat, wo er und Brigitte häufig glückliche Wochen und Monate
verbrachten, umgeben von guten Freunden aus wissenschaftlichen und religiösen
Institutionen, obwohl er sich mit den politischen Verhältnissen durchaus nicht
immer einverstanden zeigte. Als nämlich israelische Soldaten die von ihnen
kontrollierten Ausweise von Palästinensern danach achtlos zu Boden warfen, hob
Dietmar sie auf und gab sie den Menschen zurück. Dennoch, in schwierigen
Zeiten, wie etwa während des ersten Irakkrieges 1991, hat er sich solidarisch
mit seinen Freunden in Israel gefühlt und Jerusalem nicht verlassen. Das war
sicher ein schwerer - vielleicht auch gegen den Wunsch seiner Familie gefaßter -
Entschluss, aber es war: Dietmar Stehlik pur!
Lassen Sie mich nun
auf den Hochschullehrer Dietmar Stehlik eingehen. Seine
Lehrveranstaltungen wurden stets mit großem Interesse aufgenommen. In den
Prüfungen war er gerecht. Dabei half er – und ich konnte dieses selbst erleben
– den Studenten zunächst ihre Anspannung abzubauen, damit sie dann all ihr
Wissen offenbaren konnten. Auch alsVorsitzenderder Promotionskommission zeigte er erneut,
mit welch ausgleichender Gerechtigkeit, Geduld, aber auch objektiver
Sachlichkeit er als Hochschullehrer wirkte. Dabei befasste er sich sehr
intensiv mit jedem Kandidaten und seiner Arbeit und er sorgte dafür, dass die
öffentliche Prüfung in einem sehr angenehmen und entspannten Klima ablief. Wenn
es dann jedoch um die gerechte Benotung ging scheute er auch nicht vor einem Konflikt
mit Kollegen zurück. Weiter sollte
erwähnt werden, dass er sich stets sehr um die Betreuung ausländischer
Studenten gekümmert hat, beispielsweise als Vertrauensdozent des Katholischen
Akademischen Austauschdienstes.
Der Stil in seiner
Arbeitsgruppe war durch konsequente Anleitung und offene Diskussionen geprägt. Seine
Mitarbeiter erhielten dann allerdings auch größtmögliche Freiheiten und beste
Unterstützung zur Realisierung selbst eigener wissenschaftlicher Vorhaben. Dieser
frühen Entlassung in die Freiheit ist es zu verdanken, dass sehr viele seiner Schüler
später zu Professoren berufen wurden.
In seiner
Arbeitsgruppe hatte die persönliche Begegnung einen besonderen Stellenwert: Dabei
waren Arbeitszeit und Freizeit oft nicht voneinander zu trennen. So wurden über
lange Zeiten hinweg gemeinsame Fußballspiele, Skiwochenenden, Kanutouren,
Schlittschuhpartien, Waldläufe und Bergwanderungen unternommen. Diese
Unternehmungen waren keine obligatorischen Betriebsausflüge, sondern Ausdruck eines
Bekenntnisses zur Gemeinschaft. Konsequenter Weise war auch sein privates Haus
in der Ihnestraße regelmäßiger Mittelpunkt für Begegnungen. Hierbei war es für
ihn und seine Familie stets selbstverständlich, dass auch die Familien der Anwesenden
in die Gemeinschaft mit eingeschlossen wurden. So erinnern sich selbst die Kinder,
die dabei waren, stets gerne an den „Professor“ und seine Familie.
Zum Schluss möchte
ich über Dietmar als Freund sprechen: Auch ich wurde, als ich nach
Berlin kam, sehr bald mit meiner Familie, zu Dietmar nach Hause eingeladen, und
wir lernten Brigitte kennen. Sehr früh entdeckten wir an dem unvergesslichen
Abend etliche Gemeinsamkeiten: So waren wir beide noch lateinische
Ministranten, wir haben den gleichen Geburtstag, unsere Frauen haben beide
einen besonderen Bezug zur Kultur Lateinamerikas, und beide konnten wir sehr
herzlich miteinander scherzen und lachen. Allerdings auch in grundsätzlichen
Dingen waren wir vielfach gleicher Meinung, und so entwickelte sich schnell
eine wunderbare Freundschaft, für die ich zutiefst dankbar bin. Dietmar war für
mich mehr als nur ein Freund, er war auch Ratgeber und Vorbild. Und so konnte
ich, wann immer ich Probleme sah, mich an ihn wenden. Stets wurde ich dabei von
einem freundlichen Lächeln empfangen und stets sagte er mir: „dass ist doch
alles nicht so schlimm“, „das musst Du einfach nicht so eng sehen“ und „das
kriegen wir schon hin“. Und fast immer hatte er dabei recht.
Von Dietmar ging eine
Kraft aus, deren Ursprung ich in seiner inneren Überzeugung, seinem Glauben
sehe. Sein Tod kam viel zu früh, unerwartet, und ist für alle Anwesenden,
besonders für seine Familie, ein schrecklicher Verlust. Dennoch glaube ich,
dass für Dietmar selbst darin Positives lag: Er starb innerhalb weniger Minuten,
während einer Radtour, in schöner Natur, und im Beisein von Brigitte: Also kein
abruptes Ende, sondern ein Übergang. Und so hinterlässt er den Hinterbliebenen
und uns allen – trotz aller Trauer – auch viel Ermutigendes: Er gab uns Anstöße, die wir
fortführen, und er weist uns Wege auf,
die wir weitergehen sollten: Zuversichtlich und optimistisch wie er!
Ansprache von Robert Stehlik:
Wir verabschieden
heute Dietmar Stehlik, meinen Vater, meinen Papi. Er war selbstlos und grosszügig, wie man sich
einen Vater und Großvater nur wünschen kann. Dietmar liebte die Kinder, er hat
mit Vorliebe mit seinen Enkelkindern im Garten Fussball gespielt, ist mit ihnen
im See schwimmen gegangen und hat gerne mit ihnen rumgetobt.
Wir freuen uns
sehr über die vielen Bekannten und Freunde, die zu dieser Trauerfeier gekommen
sind, vielen Dank für die große Anteilnahme.
Als ich 13 Jahre
alt war lebten wir für ein Jahr in Berkeley in Kalifornien. Wir sind damals fast jedes Wochenende in die
Sierra Nevada Mountains gefahren, um auf Skitouren oder Wanderungen zu gehen. Ich war oft der Einzige, der mit ihm auf den
langen Skitouren mithalten konnte und wollte, und so waren wir oft zu zweit
unterwegs.
Nach einer kalten
Nacht im Schnee zu zelten, um noch vor Sonnenaufgang aufzubrechen und einen
Berg zu erklimmen, das war ihm sein größtes Glück. Ich habe gelernt, diese Touren, die Schönheit
der Berge und die Zeit mit ihm zu schätzen und zu lieben.
Er war mit den
einfachsten Dingen zufrieden. Er würde lieber wild zelten als in einem 5 Sterne
Hotel zu übernachten, er vermeidete Konsum und verabscheute Verschwendung und
unnötigen Luxus.
Wenn er mal in
einem kommerziellen Skigebiet fuhr, war er am liebsten mit 20 Jahren alten
Skiern und museumsreifer Skiausrüstung und Kleidung unterwegs. Als er im Keller unserer Grosseltern alte
Bambus-Skistöcke fand, mit großen ledergebundenen Tellern, gab er groß an, dass
diese riesigen Teller im Tiefschnee viel mehr Halt gaben und wesentlich besser
wären als unsere neumodischen Stöcke mit kleinen Plastiktellern.
Er wurde öfters
von anderen Skifahrern mit modernster Ausrüstung fassungslos bestaunt und
bewundert, wenn er an ihnen vorbei wedelte. Kurz zuvor hatten sie ihn in der
Liftschlange gesehen und sich über seine Ausrüstung lustig gemacht.
Er beschrieb
meiner Mutter damals seine Vorstellung vom Paradies als eine Tiefschnee-
Abfahrt im frischen Pulverschnee in seinen geliebten Bergen.
Hoffen und beten
wir, dass er seinen Tiefschneehang im Himmel gefunden hat und dort locker und
mit einem großen Grinsen im Gesicht durch den Pulverschnee gleitet.
Gute Fahrt, Papi…
Liebe Brigitte,
weil ich wegen einer lange vorher festgelegten Familienfeier an dem Fest im Juli nicht teilnehmen konnte, hatte ich mich in einem kurzen Brief dafür entschuldigt, ausgerechnet bei der Verabschiedung eines "Freundes und eines der liebsten Kollegen fehlen zu müssen". Ich konnte nicht ahnen, dass es mir versagt sein würde, ihn je wiederzusehen. Noch immer stehe ich fassungslos vor der Nachricht von seinem jähen Tode und die Gedanken an Dietmar lassen mich seitdem nicht los.
Wir haben über die Jahre hinweg in einer vertrauensvollen, freundschaftlichen Beziehung zueinander gestanden. Ich denke dankbar an seine engagierte, selbstlose Art, die Belange des Fachbereichs - allen voran die der Sonderforschungsbereiche - anzupacken. Sein ausgleichendes Wesen und seine wohlwollende Art beim Umgang mit nicht immer liebenswert agierenden Kollegen haben mich beeindruckt. Oft habe ich ihn um seine gütige Gelassenheit in solchen Situationen beneidet.
Die Reaktionen auf seinen Tod im Fachbereich belegen, wie sehr sein Rat und die Klarheit seines Urteils geschätzt waren. Im Rückblick erst wird so mancher wahrnehmen, wie sehr seine auf klaren Verstand und einfühlsame Vernunft gegründeten Pläne und Vorhaben ihre Überzeugungskraft wesentlich der moralischen Redlichkeit ihres Urhebers verdankten. Wie sich Dietmar als Wissenschaftler, Lehrer und Mensch verhalten hat, war vorbildlich. Das von ihm uneingeschränkt und aus voller Überzeugung sagen zu können, zeichnete ihn aus. Sein Tod reißt eine schmerzliche Lücke für alle, die ihm nahe standen und zu denen zähle ich mich. Dabei ist mir sehr bewusst, dass unsere Betroffenheit und Trauer keinen Vergleich zulässt mit dem Ausmaß des Schmerzes, den Du, liebe Brigitte, und die ganze Familie erleiden.
Meine Frau und ich möchten unsere Anteilnahme dadurch bekunden, dass wir uns still neben Euch stellen, um eines wunderbaren Menschen zu gedenken, den ihr geliebt habt und den wir - wie alle seine Freunde - hochgeschätzt haben.
Helmut Gabriel, August 2007
Brigitte
Stehlik Ihnestr. 51 14195 Berfin Germany
Dear Dietmar
Two weeks have passed since your
sudden disappearance without any warning. It is hard on me to speak
to
you without waiting to your response.
For me, Dietmar, you were like my brother from whom I got good and useful
advices.
I will never forget the day were
buses were explodlng in Jerusalem, during the Israel Chemical Society Meeting,
where many of the invited speakers cancelled their participation. Under these
circumstances I asked you, with a short notice, to join us in
the meeting. You accepted my message promtly, without any reservation.
Dietmar
my brother, how can I forget your phone call from Cyprus, at two o'clock after
midnight during the Gulf war, when missiles were falling on Israel? While
people
were looking for ways how to leave Israel you felt that your
mission is to stay with us. “I am on my
way to
Israel and do not bother to pick me up,
see you in the morning at the Institute of Advanced Stuiles.
These
events reflect Dietmar, not only a brother, but also a "mensch." I
miss you Dietmar and to Brigitte: Dietmar left you with a
family. Be strong to continue raising and enjoing
Dietmar's beautiful family.
Haim and Hedva Levanon
Jerusalem, 24/08/2007
Leipzig, den 22. August 2007
Liebe Frau Stehlik,
es fällt sehr schwer, aus diesem traurigen Anlass passende Worte zu finden. Sie wissen, wie sehr ich Ihren Mann geschätzt habe. Stets habe ich seine Intelligenz, seinen Humor, seine Fröhlichkeit, seine Bescheidenheit und auch seine Frömmigkeit bewundert. Er hat nie mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten und mit seinem reichen Wissen geprahlt oder diese Gaben auch nur durchscheinen lassen; nie hat er andere, die ihm unterlegen waren, mit seinem überragenden Können beschämt. Wer ihn nicht kannte, konnte ihn glatt für einen beinahe durchschnittlichen Vertreter aus dem harmlosen Völkchen der Universitätsakademiker halten. Kurz, mir ist völlig klar, was Sie mit ihm verloren haben und wie fühlbar diese Lücke noch sehr lange sein wird.
Dennoch war ich, als ich die Nachricht hörte, weder erschüttert noch tief betrübt. Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass für mich der Tod etwas völlig Normales ist, das zum menschlichen Leben notwendig dazugehört. Was uns gelegentlich unsere Fassung raubt, ist ja nicht der Tod an sich – wir wissen alle, dass wir sterblich sind -, sondern vor allem der Zeitpunkt, das Unerwartete, manchmal auch die äußeren, gelegentlich sehr bitteren Umstände. Und als Christen leiden wir, so denke ich, oft auch besonders unter dem Zweifel, ob der geliebte Mensch, den wir verloren haben, das Ziel erreicht hat, das uns doch wohl vorschwebt und das wir mit verschiedenen Ausdrücken wie „ewige Seligkeit“, „Anschauung Gottes“, „Sitzen am Tische des Herrn“, „Teilnahme am ewigen Hochzeitsmahl“ usw. sicherlich nur ganz unvollkommen beschreiben. Bei Ihrem Mann habe ich solche zu besonderer Betroffenheit Anlass gebenden Begleitumstände nicht gesehen: soweit ich weiß, war er bis zuletzt im Vollbesitz seiner Kräfte, er musste nicht qualvoll und langwierig leiden, der Tod hat ihn von dieser Erde gleichsam hinweggeküsst, und um sein Seelenheil möchte ich mir bei aller Demut und Begrenztheit meines Wissens keine sehr tiefgehenden Sorgen machen. Wenn wir um ihn trauern, dann nicht deswegen, weil es ihm vielleicht schlecht geht, sondern deswegen, weil wir ihn verloren haben und den Rest unseres Lebens den Weg ohne ihn gehen müssen.
Dabei ist auch das wahrscheinlich nicht ganz richtig: Ich habe seit jeher die Vorstellung, dass es nicht die körperliche Nähe oder Anwesenheit ist, die uns mit einem geliebten Menschen verbindet, sondern das geistige Band. Deshalb können wir ja auch eine Trennung durch Dienstreisen usw. mühelos ertragen, während uns der Verlust der geistigen Verbindung (z.B. bei einem Menschen, der an Alzheimer leidet) ratlos und trostlos zurücklässt, auch wenn wir den Betreffenden vor uns sehen und ihn anfassen können. Deshalb ist auch der Tod in dieser Beziehung kein Ende: die Beziehung zu dem geliebten Menschen können wir aufrecht erhalten, solange wir wollen, indem wir an ihn denken, ihn weiterhin lieben, für ihn beten und vielleicht sogar um seine Hilfe und seinen Beistand bitten.
Denn wenn an der Idee der „Gemeinschaft der Heiligen“ (die ich besonders liebe und die leider im „großen“ Credo nicht erwähnt wird) etwas dran ist, dann doch wohl das, dass sie die Gemeinschaft derjenigen ist, die an Christus glauben und in der Liebe und Treue zu ihm vereint sind. Dabei spielt es ganz offensichtlich überhaupt keine Rolle, ob wir leben oder gestorben sind, ob wir von der Kirche formell und feierlich heilig gesprochen worden sind oder ob wir still und unerkannt das uns aufgegebene Werk verrichten. Für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft ist die Zugehörigkeit zu den Lebenden oder Toten ebenso unerheblich wie die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Nation oder einer Rasse. Wenn das alles richtig sein sollte (ich hoffe es!), dann hindert uns doch wahrhaftig nichts und niemand daran, mit einem anderen Mitglied dieser Gemeinschaft Kontakt zu halten, mit ihm zu sprechen, ihm unsere Anliegen vorzutragen und ihn um seine Hilfe zu bitten, und nichts hindert den so Angesprochenen, diesen Anliegen zu entsprechen und sie seinerseits vor Gott zu tragen. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Mann sich dort, wo er jetzt ist, ebenso wirkungsvoll um seine kleine Familie kümmern kann, wie er das von der Ihnestraße aus gekonnt hat – vielleicht sogar besser! Das nenne ich das geistige Band, und der Tod ist nicht im Mindesten in der Lage, es zu durchschneiden.
Ich habe vielleicht ein etwas unterkühltes, wenig emotionales Verhältnis zum Tod, weil ich mich seit meiner Jugend mit dieser Frage intensiv beschäftigt und frühzeitig Überzeugungen entwickelt habe, die ich bisher nie revidieren musste. Dabei bin ich zu der Einsicht gelangt, dass der Tod nicht etwas Negatives, etwas Böses ist; er ist nicht der Gegenspieler Gottes (auch wenn so wunderbare Schöpfungen wie „Der Tod und das Mädchen“ uns das weismachen wollen), sondern er ist der Bote Gottes, wenn nicht Gott selbst. Denn wenn es wahr ist, dass wir für die Ewigkeit geschaffen und dazu bestimmt sind, an dem inneren Wesen der Dreifaltigkeit, der Liebe Gottes und seiner Freude teilzunehmen, dann kann jener Schritt, der uns dieser Bestimmung näher bringt, keinesfalls etwas Schlechtes sein.
Wir haben aus unserer Religion die Gewissheit geschöpft, dass die Geschichte ein gerichteter Prozess ist, in den Gott immer wieder eingreift – im Großen wie im Kleinen. So wie die Geschichte deshalb im Letzten Heilsgeschichte ist, so ist auch das Leben jedes einzelnen Menschen Teil dieser Heilsgeschichte und damit persönliche Heilsgeschichte im Sinne einer persönlichen Entwicklung der Heilserwartung, Vorbereitung und Teilhabe. Der Tod ist der Abschluss einer persönlichen Entwicklung, die jeder für sich durchläuft; er kommt, wenn diese Entwicklung abgeschlossen und die Stufe erreicht ist, auf der sich das Heil verwirklicht. Wir können – zum Glück – aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht ermessen, wann dieser Zeitpunkt erreicht ist. Wir können deshalb die Frage „Warum gerade jetzt?“ nicht beantworten, aber ist das ein Wunder? Ich bin deshalb seit jeher davon überzeugt: Niemand stirbt vor seiner Zeit. Es ist deshalb nicht sinnvoll, darüber zu grübeln, ob jemand zu früh, zu spät oder sozusagen gerade zur rechten Zeit gestorben ist. Es hat keinen Zweck, diese Fragen (Warum? Warum gerade jetzt?) auch nur zu stellen, und es bedrückt mich immer, wenn sie anlässlich bedeutender Katastrophen in Anwesenheit von Bundeskanzlerin, Bundespräsident, Presse und Fernsehen mit anklagendem Ton von christlichen Kirchenvertretern in die Mikrophone gerufen werden.
Wir sitzen alle in einem etwas muffigen Wartesaal. Gelegentlich öffnet sich die Tür und einer von uns wird aufgerufen (auch wenn er nicht direkt an der Tür sitzt und nach unserer Vorstellung vielleicht noch nicht „dran“ ist); er erhebt sich und durchschreitet jene Tür, hinter der wir hoffentlich mit Recht die Fülle der Herrlichkeit vermuten. Wir, die wir zurückbleiben, müssen etwas enger zusammenrutschen und zusehen, wie wir unsere Angelegenheiten ohne die Hilfe des anderen zu einem würdigen Ende führen können. Aber ist das etwa ein Grund, mit dem Schicksal zu hadern und denjenigen anzuklagen oder zur Rechenschaft zu ziehen, der uns ruft?
Was
unzerstörbar bleibt, ist die Erinnerung an einen beeindruckenden, überaus
liebenswerten Menschen, einen verlässlichen Freund, einen Gentleman, einen
geistreichen Gesprächspartner. Ich werde umso weniger Mühe haben, Ihren Mann
auf dem Höhepunkt und im Vollbesitz seiner Kräfte in Erinnerung zu behalten,
als er wirklich keinerlei Symptome von Hinfälligkeit an Körper oder Geist hatte
erkennen lassen. Sein Tod hinterlässt eine sehr, sehr fühlbare Lücke. Aber es
ist doch ein gewisser Trost, zu wissen, dass er sozusagen in voller Blüte
gestorben ist und noch nichts von all dem erleben musste, was wir als Preis für
die hohe Lebenserwartung bezahlen müssen – Nachlassen unserer geistigen Kräfte,
Krankheit, Siechtum, Schmerzen, Entwürdigung im Pflegestadium – kurz: das
Pandämonium der modernen Geriatrie. Stattdessen lebt sein Bild unberührt von
derartigen Einbußen in uns fort. Keine Krankheit kann ihn mehr schädigen, kein
Unfall ihn zum Krüppel machen, keine Lähmung ihn dem tätigen Leben entziehen,
keine Blindheit und Taubheit seine Verbindungen zur Umwelt abschneiden. Sein
klarer Geist kann nicht mehr umnachtet werden, kein Verfall kann ihm etwas
anhaben, nicht Schreckliches oder Unerwartetes kann ihm mehr zustoßen, wir
können ihm unsere Gedanken und unsere Liebe sozusagen völlig sorgenfrei und
rein zuwenden. Er lebt in der Welt unseres Geistes weiter, völlig unbeschwert
und unbeschwerend. Ich habe es deshalb immer so empfunden, dass der Tod einen
geliebten Menschen nicht nur hinwegnimmt, sondern auch birgt und vor weiterer
Gefährdung und Beschädigung bewahrt.
Liebe
Frau Stehlik, ich hoffe, ich habe Sie mit meinen vielleicht etwas unorthodoxen
Ansichten nicht schockiert oder überfordert oder verletzt; das täte mir gewiss
sehr leid. Aber ich hoffe, dass Sie jedenfalls einen Teil meiner Gedanken
teilen und aus dieser Betrachtungsweise vielleicht auch etwas Kraft und
Zuversicht schöpfen können. Ich umarme Sie in herzlicher Zuneigung und Anteilnahme